Der Klabautermann trifft Kinder auf einer Piraten-Schatzsuche

Der Klabautermann

Steckbrief

Portrait Klabautermann mit Muschel

Der Klabautermann ist ein kleines graues Männchen mit meeresgrünen, gutmütigen Augen und einem langen roten Bart. Gekleidet ist er in einen alten, wettergegerbten Seemannsmantel, der mit Muscheln und allerhand Schätzen aus dem Meer behängt ist, dazu trägt er Gummistiefel und Südwester. Häufig raucht er Pfeife und fast immer trägt er einen Kalfaterhammer bei sich, um bei jeder Gelegenheit damit klopfen und poltern zu können.

Neuerdings sieht man ihn stattdessen immer öfter auch mal sein mobiles Muscheltelefon in der Hand halten. Das heißt — falls man ihn sieht. Denn Erwachsene können ihn im Allgemeinen überhaupt nicht sehen. Kinder hingegen haben damit kein Problem.

Lange Zeit war der Klabautermann als Schiffskobold und Schutzgeist der Seefahrer auf allen Weltmeeren unterwegs. Bei Gefahr stand er der Schiffsmannschaft hilfreich zur Seite, ansonsten trieb er gern Schabernack und lärmte und polterte nachts auf dem Schiff herum.

Aber er fühlt sich nur auf hölzernen Schiffen zu Hause, und da es auf dem Meer immer weniger hölzerne Schiffe gibt, schippert er jetzt den größten Teil des Jahres lieber mit einem alten Äppelkahn auf kleineren Gewässern wie Spree, Havel, Teltowkanal, Müggelsee, Scharmützelsee, Schermützelsee, Schlachtensee, Wannsee und Wandlitzsee herum.

Ganz in der Nähe eines Berliner Springbrunnens, oder vielleicht sogar mitten drin, soll er sich ein gemütliches Koboldhäuschen eingerichtet haben. (Näheres dazu kann man herausfinden, wenn man an einer Stadtrallye auf den Spuren des Klabautermanns teilnimmt — der ⟶ Berliner Brunnentour).

Wenn der Klabautermann nicht gerade mit dem Polieren seiner ⟶ zahlreichen Goldtaler oder mit Herumpoltern beschäftigt ist, oder auf seinem Äppelkahn sitzt und Milch trinkt, oder mit seinem Kalfaterhammer losgezogen ist, um flink und unbemerkt eines der auf Berlins Spielplätzen so zahlreich anzutreffenden Kletterschiffe zu reparieren, dann trifft er sich am liebsten mit Kindern. Mit ihnen kann er sich ausgezeichnet unterhalten, viel besser als mit den modernen Seefahrern, die nicht einmal mehr richtiges Seemannsgarn spinnen können.

Seit seinem Rückzug aus dem Schiffskoboldgeschäft verwendet er daher seinen ganzen neckischen Koboldeifer vor allem dazu, sich zusammen mit seinem Freund Robert Mingau — dem Autor dieser Website und kongenialen Spielaktionserfinder — märchenhafte Erlebnisse und unvergessliche Abenteuer für Kinder in Berlin und Brandenburg auszudenken.

1.

Sehr günstig ist es, wenn sich maximal elf Klafter entfernt von dem Eichenschatten, den man als Ort der magischen Beschwörung gewählt hat, eine grüne, schmiedeeiserne Pumpe befindet, wie sie in Berlins Straßen und Parks häufig anzutreffen sind. Wenn das der Fall ist, benutzt man am besten diesen Spruch:

„Klabautermann, du alter Lump,
Komm her zu dieser grünen Pump!“

Das Ganze muss man entweder dreimal oder elfmal wiederholen und anschließend elfmal (nach dreimaligem Rufen) oder dreimal (nach elfmaligem Rufen) den Pumpenschwengel betätigen, bis der Klabautermann unversehens aus dem kühlen Nass des Wasserstrahls emporsteigt und in den Bannkreis hineingezogen wird.

2.

Hat man ein Schälchen Milch zur Verfügung, dann kann man dieses an einem der fünf Zacken des magischen Pentagramms aufstellen und rufen:

„Klabautermann, Klabauterknilch,
komm her und schlabber deine Milch!“

Noch besser klappt es womöglich mit einem Milcheis am Stiel, mit oder ohne Schokoladenkruste. Das legt man, natürlich ohne Verpackung, auf einen Teller, stellt ihn ebenso wie die Milch in den magischen Kreis und ändert den Spruch ein klein wenig ab:

„Klabautermann, Klabauterschnuckel,
komm her, ich hab für dich ’nen Nuckel!“

Der Klabautermann ist ein Leckermaul und wird sich, wenn er nicht gerade etwas anderes zu tun hat, nicht lange bitten lassen.

3.

Eine gute Erfolgschance hat man auch, wenn man entweder drei oder elf alte Schiffslaternen auftreiben kann. Diese zündet man an und stellt sie in drei bis elf Schritt Entfernung voneinander in einer exakt parallel zur Milchstraße, quer über den Eichenschatten verlaufenden Linie auf. Dann provoziert man den Klabautermann, indem man lauthals ruft:

„Klabauter, du lauter,
versuchs doch, du Pupsloch,
du Rotbarschbulette,
du Rotbart, ich wette,
du wirst es nicht schaffen,
mit Pusten und Paffen,
mit Husten und Prusten
mein Licht auszupusten!“

Der Klabautermann wird daraufhin sicher zeigen wollen, wie gut er bei Puste ist. Aber Achtung! Es könnte passieren, dass er zu dem Kind, das ihn so herbeigelockt hat, erst einmal ziemlich unfreundlich ist. Wer wäre das nicht, nachdem ihn jemand mit so frechen, respektlosen Worten angesprochen hat!

4.

Nur für sehr, sehr erfahrene Magier, die einen echten Zauberermantel mit weiten Ärmeln besitzen und noch dazu keine Angst vor Quallen haben, gibt es noch diese sehr komplizierte, aber auch besonders wirksame Beschwörungsformel:

„Hokus Pokus Fidibus,
Neptun, Nereus, Nautilus,
Holter Polter Spiritus,
Glibberquallen-Tortenguss.
Lirum Larum, Warum? Darum!
Karavellum Kalamarum,

Lari Fari, Schifflein, fahre,
Mare, maris, mari, mare,
Non scholae sed vitae discimus
Klabauta nauta primus,
Karausche, Karnickel, Klavier,
Klabautermann, zeige dich mir!“

Dabei muss man am Meeresstrand stehen, im Idealfall unterhalb einer eichenbewachsenen Steilküste, und dort seinen magischen Muschelkreis in den Sand gelegt haben. Zusätzlich muss man elf tote Quallen in den weiten Ärmeln des Zauberermantels verstauen und diese im Rhythmus der Worte „Lirum Larum, Warum? Darum!“ (Quallen 1-4); „Mare, maris, mari, mare“ (Quallen 5-8) sowie „Karausche, Karnickel, Klavier“ (Quallen 9-11) einzeln hinaus ins Meer schleudern. Außerdem darf man sich bei dem ganzen Zauberspruch auch noch kein einziges Mal versprechen!

Ausführlicher Lebenslauf des Klabautermanns

Vorbemerkung

Robert Mingau betrachtet aufmerksam das Fischerdenkmal in Heiligenhafen (es könnte sich auch um den Klabautermann handeln)

Das Leben des Klabautermanns zu erforschen ist kein leichtes Unterfangen, reicht doch sein mythisches Wandeln und Wirken Jahrtausende in die Vergangenheit zurück. Bei so einer langen Lebensspanne ist es klar, dass auch der Klabautermann selbst allenfalls Bruchstücke seiner Biographie aus dem Gedächtnis rekonstruieren kann.

Der hier wiedergegebene Lebenslauf orientiert sich am aktuellen Forschungsstand, das heißt, er verknüpft die wenigen Fakten, die aus größtenteils unzuverlässigen Quellen hervorgehen, mit den teilweise recht kühnen Hypothesen der ⟶ wissenschaft­lichen Klabautermann­kunde. Es handelt sich somit um ein biographisches Puzzle mit vielen Lücken, das sich jedoch bemüht, ein Gesamtbild von größtmöglicher Anschaulichkeit zu vermitteln.

Lebenslauf lesen (Kapitel 1)

Die Begründer der ⟶ wissenschaftlichen Klabautermannkunde, Professor Mingau und Dr. Kienspan, stellen die Zuordnung zu den Kobolden keinesfalls infrage. Es gelang ihnen jedoch, die Lebensgeschichte des Klabautermanns über jene Epoche hinaus zu verfolgen, in der ihn der Volksaberglaube in Koboldgestalt gekannt und verehrt hat. Einerseits nämlich schlägt sein Lebensweg in jüngster Zeit eine ganz neue Richtung ein, andererseits führt die Spur seines mythischen Wirkens und Wandelns noch mehrere Jahrhunderte weiter zurück: bis in die Antike.

❷ Altertum: Ein keltischer Gott

Bronzestatue Sucellus

Bronzestatue des Sucellus im Musée nationale d'archéologie, Saint-Germain-en-Laye
Foto: PHGCOM [Public domain]
Quelle: Wikimedia Commons

Durch vergleichende religionswissenschaftliche und mythologische Studien gelangten Prof. Mingau und Dr. Kienspan zu der Überzeugung, dass der Klabautermann nicht nur ein Verwandter, sondern unmittelbar identisch mit dem keltischen Wald- und Fruchtbarkeitsgott Sucellus sei. Dieser wurde im antiken Gallien verehrt, vorwiegend im Gebiet zwischen Mosel, Rhône und der heutigen frankophonen Schweiz, und er stammt seinerseits von einer Dryade — einer griechischen Baumnymphe (genauer: Eichennymphe) — ab.

Der Name Sucellus geht auf die indogermanische Wurzel *keldos zurück, mit der Bedeutung treffen oder zuschlagen, die sich z.B. auch im griechischen klao (zersplittern, brechen) und im litauischen kalti (hämmern) wiederfindet. Aus dem gleichen Stamm leitet sich das norddeutsche klabastern oder klapaustern (klopfen, poltern) her, aus dem wiederum der Name des Klabautermanns abgeleitet ist, desgleichen das Wort kalfatern (abdichten/flicken von Schiffswänden) und das für diese Arbeit gebräuchliche Werkzeug: der Kalfaterhammer.

Genau wie die hier abgebildete Bronzestatue zeigen die meisten erhaltenen bildlichen Darstellungen Sucellus mit einem merkwürdig überdimensionierten Hammer in der rechten Hand, dessen Funktion nicht endgültig geklärt zu sein scheint. Gelegentlich wird er als Instrument gedeutet, mit dem der Gott, der auch Herr über Leben und Tod war, Menschen den Tod bringen oder Tote wieder zum Leben erwecken konnte. Möglich erscheint aber auch, dass er ihn in erster Linie zum Poltern und Lärm machen benutzt hat. Die frappierende Ähnlichkeit mit dem Kalfaterhammer, der später zum typischen Attribut, Standardwerkzeug und Polterinstrument des Klabautermanns werden soll, ist jedenfalls klar zu erkennen.

Den Weg der Verwandlung des keltischen Gottes des Altertums in eine neuzeitliche, norddeutsche Sagengestalt, rekonstruiert die wissenschaftliche Klabautermannkunde wie folgt:

Nach der Eroberung Galliens durch die Römer wurde Sucellus zunächst mit römischen Göttern (Silvanus oder auch Pluto) gleichgesetzt. Mit diesen Göttern musste er fortan seinen Lebensunterhalt — also die ihm dargebrachten Opfergaben — teilen. Mit dem Beginn der Christianisierung hörte seine Verehrung gänzlich auf. Im frühen Mittelalter wanderte er dann als ein vazierender (unbekannt und arbeitslos gewordener) Gott durch ganz Europa.

❺ Das Leben als Schiffsgeist

Segelschiff (alte Buchillustration)

War der Klabautermann also auf einem Schiff aus den Planken herausgekrochen und zu leiblicher Existenz gelangt, so richtete er sich auch gleich häuslich ein und trat mit der Schiffsmannschaft in Kontakt.

Vermutlich war er für die Seefahrer des Mittelalters noch weitestgehend sichtbar und lebte mit ihnen in einer mehr oder weniger gleichberechtigten Gemeinschaft zusammen. Seine Unsichtbarkeit für Erwachsene bildete sich erst im Laufe der folgenden Jahrhunderte allmählich heraus.

Selbst für den sichtbaren Klabautermann scheint es jedoch typisch gewesen zu sein, dass er sich den Matrosen mit besonderer Vorliebe durch Poltern bemerkbar machte.

Es heißt auch, dass er nachts allerlei nützliche Arbeiten verrichtete: er stopfte Löcher im Schiffsrumpf (unter Verwendung des Kalfaterhammers), flickte Segel und Kleider, reparierte Töpfe und Werkzeug, oder staute die Ladung nach. Dabei polterte und lärmte er oft so laut herum, dass die Seeleute nicht schlafen konnten, besonders, wenn diese ihn am Tag zuvor geärgert hatten.

Reliefschiff mit bärtigem Seemann

Auch soll er sich mit (wohl überwiegend im unsichtbaren Modus ausgeteilten) Püffen und Kniffen an denjenigen Matrosen gerächt haben, die ihn alle Arbeit allein tun lassen wollten und selbst auf der faulen Haut lagen.

Ob er mit einigen Kapitänen persönliche Unterhaltungen über Gott und die Welt führte — der Klabautermann selbst glaubt, sich daran zu erinnern — unterliegt gewissen Zweifeln. (Man muss hier sowohl auf klabautermännischer Seite als auch in den Kapitänsmemoiren, die von solchen Gesprächen berichten, mit einem hohen Anteil an Seemannsgarn rechnen).

Auf jeden Fall führte er auf den meisten Schiffen ein gutes Leben. Die Seemänner wussten, dass er ihr Schiff vor Brand, Strandung und anderen Gefahren behütete. Solange der Klabautermann an Bord war, konnte das Schiff nicht sinken.

Daher behandelten sie ihn stets gut und stellten bei allen Mahlzeiten einen Extra-Teller für ihn auf, auf dem ihm von allem das Beste serviert wurde. (Er war als Feinschmecker bekannt und als ehemaliger Gott daran gewöhnt, Opfergaben entgegenzunehmen).

Besondere Mühen verwandte so mancher Schiffskoch darauf, so lange wie möglich frische Milch für den Klabautermann vorrätig zu halten, die er sich am liebsten in mehreren kleinen Schälchen, überall auf dem Schiff verteilt, servieren ließ.

Während der gesamten Epoche der Segelschifffahrt reiste der Klabautermann auf diese Weise über die Weltmeere, in glücklicher Vereinigung mit der Besatzung seines jeweiligen Schiffes, das er nur verließ, wenn es unterging. Von einem bestimmten historischen Zeitpunkt an war das dann auch der einzige Moment, in dem er überhaupt noch für die Schiffsmannschaft sichtbar wurde.

So berichtet Heinrich Heine 1826 von seiner Reise auf die Insel Norderney (erschienen im 2. Teil der Reisebilder), was ihm der „wackere Steuermann“ seines Schiffes vom Klabautermann zu erzählen wusste:

„Auf meine Frage, ob man ihn nicht sehen könne, erhielt ich zur Antwort: nein, nein, man sähe ihn nicht, auch wünsche keiner ihn zu sehen, da er sich nur dann zeige, wenn keine Rettung mehr vorhanden sei. (...) wenn der Sturm zu stark und das Scheitern unvermeidlich würde, setze er sich auf das Steuer, zeige sich da zum erstenmal und verschwinde, indem er das Steuer zerbräche“.

Das Phänomen der Unsichtbarkeit des Klabautermanns für Erwachsene muss spätestens zu diesem Zeitpunkt also fest in der Alltagserfahrung der Seeleute verankert gewesen sein. Wahrscheinlich hat es sich sogar schon viel früher, mit dem allmählichen Schwinden (oder, wie Prof. Mingau und Dr. Kienspan präzisieren würden, der zunehmenden Psychologisierung und Fiktionalisierung) des sogenannten Aberglaubens herausgebildet, und hatte bereits im 18. Jahrhundert sein endgültiges Stadium erreicht.

Die Verbindung zwischen dem plötzlichen — der generellen Regel widersprechenden — Anblick des Klabautermanns mit dem bevorstehenden Tod des betreffenden Seemanns oder dem Untergang des Schiffs findet sich in mehreren weiteren zeitgenössischen Quellen wieder, unter anderem in der 1888 von P.G. Heims herausgegebenen Sammlung Seespuk. Aberglauben, Märchen und Schnurren.

❻ Der Klabautermann verlässt das Meer

Kind mit Matrosenanzug

Porträt eines kleinen Jungen im Matrosenanzug
Gemälde um 1900
(Anonym, signiert "Kra") [Public domain]
Quelle: Wikimedia Commons

Mit dem Aufkommen der Dampfschifffahrt und der Verwendung anderer Schiffsbaumaterialien als Holz verschwand der Klabautermann — auch der unsichtbare — nach und nach von den Schiffen und aus der Lebenswelt der Seefahrer. Der nun folgende Abschnitt seines Lebens stand im Zeichen einer im 19. Jahrhundert einsetzenden Entwicklung, die bis in die Gegenwart reicht und sogar immer deutlicher und extremer wird: der Infantilisierung der Seefahrermythologie.

Piraten, Walfänger, Seejungfrauen, grausame Kannibalen, glückliche Ureinwohner von Südseeinseln und eben auch der Klabautermann hielten mehr und mehr Einzug in Kinderzimmer und Kindergärten. Statt draußen im Sturm, auf dem offenen Meer, spielten ihre Abenteuer sich zunehmend in Kinder- und Jugendbüchern, auf Neuruppiner Bilderbögen, und einige Menschenalter später dann auf der Leinwand oder Mattscheibe ab. Piraten- und Seefahrergeschichten beflügeln heutzutage die Phantasie jedes Kindes, während Erwachsene sich meist achselzuckend davon abwenden, womit auch das vom Klabautermann so bedauerte Aussterben der Fähigkeit, Seemannsgarn zu erzählen, direkt zusammenhängt.

Als Zeugnis dieser Infantilisierungstendenz lässt sich beispielhaft Christian Morgensterns Gedicht „Klabautermann“ (enthalten in den 1905 erstmals erschienenen Galgenliedern) anführen:

„Klabautermann
Klabauterfrau,
Klabauterkind
im Schiffe sind.
Die Küchenfei
erblickt die drei.
Sie schreit: O Graus,
das Stück ist aus!

Den Pudel Pax -
den Kaufmann Sachs -
sie alle frißt
der Meerschoßdachs.
Klabautermann,
Klabauterfrau,
Klabauterkind
wo anders sind“.

Interessant ist hier zunächst die (wahrscheinlich erstmalige) Erwähnung von Klabauterfrau und Klabauterkind, welche dem Klabautermann in seiner Zeit als Schiffskobold niemals angedichtet wurden, sondern eben erst nach seiner Ankunft in einem domestizierten, bürgerlichen Milieu als passende Lebensgefährten für ihn empfunden werden konnten.

(Der Klabautermann selbst streitet heute zwar vehement ab, jemals Ehegatte und Vater gewesen zu sein — womit freilich nichts bewiesen ist. Er mag seine Gründe haben, dieses oder jenes Abenteuer, in das sein langes, wandlungsreiches Leben ihn führte, zu verleugnen. Verdächtig ist jedenfalls, dass ein rothaariger Kobold namens Pumuckl, der in den 1980er Jahren zum deutschen Fernsehstar wurde und dessen Abenteuer die Kinderbuchautorin Ellis Kaut bereits seit 1961 schriftlich festhielt, sich wiederholt auf seine Abstammung vom „Klabauter" berief).

Auch der Rest des Morgenstern-Gedichtes führt die Leser:innen in eine Welt weit abseits der rauen, stürmischen Gewalt des Meeres. Das vermeintliche Schiff, auf dem sich die Klabauterfamilie befindet, ist ansonsten nur von einer Küchenfee, einem Pudel und einem Kaufmann bevölkert – klischeehaften Vertretern des Alltagspersonals einer wohlbehüteten bürgerlichen Kinderstube um 1900.

Von dem aus alten Sagen und Seefahrergeschichten überlieferten Klabautermann bleibt hier nur ein einziges Motiv übrig: der Glaube, dass bei seinem Anblick das Schiff dem Untergang geweiht sei. Aber selbst dieser Untergang wird jedes ernst zu nehmenden Schreckens beraubt. Denn als Äquivalent eines alles verschlingenden, fürchterlichen Seeungeheuers tritt in der zweiten Strophe lediglich ein possierliches Wortgetüm in Erscheinung, das allzu ausschließlich Christian Morgensterns manieristischem Reimfetischismus entsprungen ist: der Meerschoßdachs.

❼ Ein neues Leben als Genius des Spiels

Klabautermann auf seinem Lieblinsplatz mit Piratenkindern

Vielleicht ist nun der Eindruck entstanden, man müsse die hier skizzierte Entwicklung als dekadent ansehen und den Verlust der Seetauglichkeit des Klabautermanns in jeder Hinsicht bedauern. Der Klabautermann selbst empfindet seine Neuorientierung der letzten 111 Jahre allerdings ganz und gar nicht als negativ.

Seinem geselligen Wesen gemäß passte er sich ohne jedes Ressentiment dem Universum der kindlichen Phantasie an, in dem er nun heimisch wurde, und das sich ihm im Vergleich zur Welt der Seefahrer sogar als überaus erfrischendes, inspirierendes Umfeld darstellte, in dem er seine dem Spiel, dem Lärm und dem Schabernack zugeneigten Koboldqualitäten freier und vielseitiger als je zuvor entfalten konnte.

Die „Kinderversion“ des Klabautermanns war von Anfang an alles andere als ein billiger Abklatsch eines authentischen maritimen Originals. Auf Grund der besonderen Seelenverwandtschaft zwischen ihm und den Menschenkindern, die sich ja allein schon daran zeigt, dass Kinder ihn ohne jede Vorbedingung jederzeit sehen können, geht der Klabautermann bis zum heutigen Tag voll und ganz in seiner Rolle als Abenteuererfinder, Phantasiereiseleiter, Flaschenpostautor, Krachkapellendirigent, charmanter Unterhalter, Spielgefährte, Maskottchen und geheimer Verbündeter der Kinder auf.

Buntes Schiff Kinderbild

Um es ein wenig pathetisch zu sagen: gerade in dieser neuen Rolle entdeckte er, nach jahrhunderte-, ja jahrtausendelanger Wanderfahrt als keltischer Gott, pommerellischer Baum, Schiffsgeist, Kobold und Sagengestalt, endlich seine wahre Berufung.

Im Sommer 2011, rund 900 Jahre nach seiner Holzwerdung an der Weichselmündung, ließ der Klabautermann sich vorerst endgültig an seinem neuen Wohnsitz in der Nähe eines Berliner Springbrunnens nieder.

Seitdem kommt es immer mal wieder vor, dass erstaunte Eltern in Berlin und Brandenburg ihre Kinder erzählen hören, sie hätten ein merkwürdiges Männchen mit rotem Bart auf einem alten Baumstumpf am Ufer der Panke sitzen sehen. Oder der Klabautermann stehe direkt vor ihrer Nase an der Reling der BVG-Fähre von Wannsee nach Kladow, oder er befinde sich gar mitten in ihrem Kinderzimmer, um mit seinem Kalfaterhammer beim Bau eines Piratenschiffes zu helfen. Manche Kinder treiben es auch noch mehr auf die Spitze und behaupten, sie seien heute etwas müde, weil sie in der Nacht mit dem Klabautermann und seinen sieben privaten Piraten eine kleine Seereise zu dieser oder jener Schatzinsel unternommen hätten.


Geschichts­philosophische Dimensionen

Aus der Perspektive der wissenschaftlichen Klabautermannkunde bildet der spielerische Umgang des Klabautermanns mit den Kindern, wie er sich in seiner jüngsten Lebensphase herausgebildet hat, nun sogar die Keimzelle einer historisch neuen Stufe der Beziehung zwischen Geistern und Menschen.

So schreiben Prof. Mingau und Dr. Kienspan in ihren Grundrissen einer Theorie des Polterns (zitiert aus dem unveröffentlichten Manuskript):

„Mit dem Absterben des seemännischen Volksglaubens und dem Bedeutungsverlust des Holzes als Schiffsbaumaterial scheint es besiegelt, dass auch der Klabautermann für den Menschen in Bedeutungslosigkeit versinkt. Aber das Gegenteil ist der Fall. Kinderaugen sehen den Klabautermann – und sie sehen ihn richtig. Weder als Schreckgespenst sehen sie ihn, das man aus lauter Angst lieber nicht genauer betrachtet, noch auch als gütigen Schutzgeist, von dessen Wohlwollen man abhängig ist und dessen Fürsorge man bedarf, sondern als Spielgefährten, dem man auf gleicher Augenhöhe begegnet und dessen geheimnisvolle Unsichtbarkeit für Erwachsene ihn zum natürlichen Verbündeten der eigenen, kindlichen Partei macht. Jenseits des Schabernacks unsichtbarer Püffe und polternder nächtlicher Ruhestörungen, jenseits des Schreckens und Grauens, mit dem der Anblick des Klabautermanns für den abergläubischen Seemann verbunden war, dem er den sicheren Tod verhieß, entfaltet sich hier zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ein gleichberechtigtes und symmetrisches Nebeneinander von Geist und Mensch. Fast unbemerkt sprießt aus dem scheinbar verseuchten, versiegelten, erodierenden Boden eines Zeitalters ökologischer Krisen der Keim eines unbefangenen, herrschaftsfreien Dialogs, der den Menschen nicht zurück zur Natur, sondern allererst hin zu einem geistreichen Einklang mit ihr, zu einem endlich einmal substanziellen Gespräch mit ihren Geistern führt“.

Handschriftliches Manuskript mit Schiffsskizze

Von der Antwort der beiden Klabautermannforscher war ich tatsächlich äußerst angetan. Im Hinblick auf seine Verständlichkeit für Kinder lässt der gelieferte Text zwar sicher noch zu wünschen übrig. Mir selbst aber hat diese „Kinderversion“ immerhin ein grundlegendes Verständnis für den philosophischen Horizont des Werkes eröffnet — im Gegensatz zu der für Laien allzu gründlichen Analyse der semantischen, semiotischen, kulturhistorischen, rituellen, ontologischen, phänomenologischen, parapsychologischen, xylophonetischen, rhythmischen und medientheoretischen Aspekte des Polterns und deren jeweiliger Anteile am Eigenleben des Unsichtbaren, die die Seiten des eigentlichen Werkes füllt.

Das Fazit: Der Klabautermann scheint gleichsam den Bauplan eines kühnen Theoriegebäudes in der Hand zu halten, das sich zusammen mit den wegweisenden Erkenntnissen Professor Mingaus über die Literatur und Dichtung der Bäume zu einem grandiosen Puzzle fügt und das uns Menschen implizit dazu auffordert, unser Verständnis der Natur, ihrer Geister und unserer Rolle als Gesprächs- (oder Polter-)Partner derselben völlig neu zu überdenken.

Mit freundlicher Genehmigung der beiden Verfasser gebe ich die erwähnte Einführung in die Mingau-Kienspansche Poltertheorie hier im vollen Wortlaut wieder:

„Klabautermannkunde ist eigentlich keine große Wissenschaft, denn sie ist kinderleicht. Jedenfalls für Kinder. Die brauchen sich einfach nur mit dem Klabautermann zu unterhalten und können ihn alles fragen, was sie über ihn wissen wollen.

Nur für Erwachsene ist das Ganze so kompliziert, weil sie den Klabautermann ja nicht sehen können. Er ist für sie unsichtbar, außer wenn sie auf einem Schiff sind, das gerade untergeht und für dessen Mannschaft es keine Rettung mehr gibt. Dann sehen die Erwachsenen auch endlich den Klabautermann, aber dann ist es für sie natürlich zu spät, sich mit Klabautermannkunde zu beschäftigen.

Damit die Erwachsenen also, auch ohne Schiffbruch zu erleiden, etwas über den Klabautermann erfahren können, gibt es die wissenschaftliche Klabautermannkunde.

Zwei Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sie mit dem Klabautermann ganz normal sprechen können, obwohl er ein für sie unsichtbarer Geist ist. Daraufhin haben sie ihm ganz viele Fragen gestellt, sich die Antworten genau aufgeschrieben und darüber nachgedacht, warum es sich mit all den Dingen, die der Klabautermann erzählt hat, und mit seiner Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit gerade so verhält und nicht anders. Außerdem haben sie noch viele Bücher über den Klabautermann und über alle möglichen anderen Sachen gelesen, zum Beispiel über Poltergeister, Spuk und Geisterbeschwörung, über Seemannsbräuche, Kobolde, keltische Götter, Springbrunnen, Sprachtheorie, Philosophie und so weiter und so fort.

Dann haben sie selbst ein Buch geschrieben, das heißt: Grundrisse einer Theorie des Polterns (oder abgekürzt: die Mingau-Kienspansche Poltertheorie). Darin dreht sich alles um das Poltern, denn das ist normalerweise das einzige, was Erwachsene vom Klabautermann mitbekommen. Und die beiden Verfasser versuchen zu beweisen, dass zwischen dem Poltern und der Unsichtbarkeit eines Geistes ein Zusammenhang besteht.

Sie vergleichen die Unfähigkeit der Erwachsenen, den Klabautermann oder andere Poltergeister zu sehen, mit dem Verhalten einiger Florentiner Professoren vor 400 Jahren, die sich zunächst geweigert hatten, durch das neu erfundene Teleskop des Galileo Galilei zu schauen, schließlich aber selbst dann, wenn sie hindurchschauten, die von Galilei entdeckten Jupitermonde nicht sahen, weil diese in ihrem Weltbild keinen Platz hatten.

Wie die Geschichte zeigt, war es schon immer so, dass Menschen jahrhundertelang aus verschiedenen Gründen für bestimmte Phänomene blind waren, bis eines Tages die Wissenschaft ein einleuchtendes Modell oder ein sogenanntes Naturgesetz zum Vorschein brachte, wodurch etwas zuvor Unsichtbares oder Undenkbares plötzlich für beinahe jeden zu etwas ganz Offensichtlichem wurde.

Die Ursache der Unsichtbarkeit des Klabautermanns für Erwachsene, so zeigen die beiden Klabautermannforscher weiter, liegt darin, dass er (ohne es selbst zu wissen) durch sein Poltern zu ihnen spricht und dass sie unbewusst Angst davor haben, das in der „Poltersprache“ Gesagte zu verstehen. Denn die Botschaft würde nicht zu ihrem Selbstbild passen und polternd an den Grundfesten ihrer Kultur rütteln.

Dieser psychische Effekt des Polterns ist für die Poltertheorie so zentral, dass er mit einem besonderen, neuen Fachbegriff benannt wurde, der da lautet: die skopotaraktische Polterperzeption.

Skopotaraktisch ist aus dem Griechischen abgeleitet und soll bedeuten, dass eine Störung oder Verwirrung (τάραξις) der Sehorgane von Erwachsenen auftritt, wenn sie das Rumpeln und Poltern des Klabautermanns oder eines anderen Poltergeistes vernehmen. Allerdings muss der Klabautermann gar nicht erst poltern, um für Erwachsene unsichtbar zu sein. Und manchmal poltern auch Menschen herum, ohne dass sie deshalb unbedingt unsichtbar werden.

Die Mingau-Kienspansche Poltertheorie untersucht nun in ihren beiden Hauptteilen „Die Geister im Poltern“ und „Das Poltern im Geiste“ ganz genau alle nur möglichen Polterszenarien. Dabei zeigt sich unter anderem, dass es auch ein Poltern ohne Geräusche geben kann, ganz so, wie es in der Physik Schallfrequenzen gibt, die für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar sind.

Das wichtigste Ergebnis all dieser Untersuchungen ist die Schlussfolgerung, dass das Poltern eine Art Sprache ist, also aus Zeichen mit einer ganz bestimmten Bedeutung besteht, und nicht nur aus zufällig aneinandergereihten Tönen. Nur dass keiner diese Sprache versteht — weder Erwachsene noch Kinder, und noch nicht einmal Poltergeister wie der Klabautermann.

Bis jetzt jedenfalls. Die beiden Klabautermannforscher sind aber fest davon überzeugt, dass es eines Tages mit wissenschaftlichen Methoden gelingen wird, die Poltersprache zu entziffern. Auf diese Weise hoffen sie, weit mehr über das Wesen des Klabautermanns erfahren zu können, als das, was sich aus anderen Quellen ergibt — also entweder aus den persönlichen Berichten des Klabautermanns, aus dem heute längst ausgestorbenen Seemannsgarn alter Seefahrer oder aus überlieferten Sagen und Legenden, in denen das, was über den Klabautermann erzählt wird, meist mit überkommenen Moralvorstellungen und Wertungen vermischt ist.

Es geht in der ganzen Poltertheorie nämlich eigentlich darum zu zeigen, dass der Klabautermann und vielleicht auch andere Poltergeister eine historische Mission haben. Eine historische Mission ist eine Aufgabe, die man hat, obwohl man selbst meistens gar nichts davon weiß und auch nichts unternimmt, um sie zu erfüllen, aber irgendwann nach langer Zeit zeigt sich dann, dass man eben doch genau das getan hat, was zur Erfüllung der Aufgabe notwendig war. Worin nun die historische Mission des Klabautermanns bestehen soll, das klingt, wenn man es zum ersten Mal hört, sicher überraschend, vielleicht sogar etwas verrückt:

Der Klabautermann ist ein Dolmetscher zwischen den Kulturen der Bäume und der Menschen.

Dazu muss man wissen, dass der eine der beiden Klabautermann­forscher, Professor Mingau, außer dem Klabautermann und seinem Gepolter auch die Literatur und Dichtung der Bäume erforscht. Er hat sogar als erster Wissenschaftler entdeckt, dass es eine Literatur der Bäume überhaupt gibt, und damit eine neue wissenschaftliche Disziplin begründet: die Baumphilologie.

Aber was hat das mit dem Klabautermann zu tun? Die Mingau-Kienspansche Poltertheorie erklärt es so:

Obwohl wir uns das heute noch nicht vorstellen können, werden sich eines Tages einmal Menschen und Bäume miteinander unterhalten können, und möglicherweise werden sie sich dazu der Poltersprache bedienen. Bis dahin ist es noch ein langer Weg, der Klabautermann kennt aber schon jetzt sozusagen beide Seiten. Er ähnelt in seiner Koboldgestalt den Menschen und kann denken, sprechen, fühlen, schmecken, sich bewegen und Schabernack treiben wie sie. Aber er ist aus dem Holz der Schiffe geboren, und davor war er ein keltischer Wald-, Wein- und Fruchtbarkeitsgott, der nach seiner ⟶ 1. Metamorphose sogar selbst eine Zeitlang das Leben eines Baumes (oder mehrerer Bäume) geführt hat.

Gegenwärtig ist allerdings davon auszugehen, dass der Klabautermann und andere Poltergeister die Poltersprache, genau wie wir Menschen, lediglich unbewusst „plappern“.

Im häufigsten Fall tritt das Poltern als scheinbar zufällige Begleiterscheinung des Arbeitens oder des Hantierens mit Gegenständen auf, von denen in der Regel mindestens ein Teil aus Holz ist.

Nun hat aber schon vor rund 200 Jahren der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Rolle des Werkzeugs beim Arbeiten sehr genau untersucht und festgestellt, dass sich in jedem Werkzeug eine List der Vernunft verbirgt, denn es wirkt nicht nur auf das bearbeitete Objekt ein (um es „zweckmäßig zu vernichten“), sondern auch auf den Arbeitenden, von dem es Geduld, Fleiß und Geschick verlangt und dem es dadurch ermöglicht, seine unmittelbare Begierde vom Objekt (dem erwünschten Ergebnis der Arbeit) abzulenken und sich stattdessen als „entäußertes Arbeitssubjekt“ zu entfalten. Auch wenn wir heute Gründe haben, daran zu zweifeln, ob die professionelle, qualifizierte Wertarbeit, die durch solch eine Entäußerung entsteht, wirklich vernünftig ist — dem Werkzeug, das zwischen Arbeitendem (Mensch, Klabautermann oder Poltergeist) und bearbeiteter Materie vermittelt, scheint noch eine weitere List innezuwohnen:

Mit welcher Absicht oder aus welchem Versehen auch immer ein Instrument oder Werkzeug betätigt wird, es wirkt sehr oft nebenbei als Polterinstrument und lässt den aufmerksamen Beobachter aufhorchen. Das Geräusch des Polterns ergibt einen Überschuss, der weder im Ergebnis der Arbeit (oder des sonstigen mutwilligen oder unfallbedingten Polteraktes) noch in den Folgen für das arbeitende oder anderweitig polternde Subjekt aufgeht. Die Mingau-Kienspansche Potertheorie identifiziert diesen Überschuss als die Stimme des Holzes, die man auch intuitiv deutlich von anderen Arten des Lärms, etwa dem Quietschen von Eisenbahnbremsen, dem Donnern von Flugzeugmotoren, dem Tosen des Meeres oder dem Geschrei von Möwen unterscheiden kann.

Nicht umsonst wird von allen möglichen Geräuschen gerade das Poltern immer wieder von Menschen als unheimlich empfunden. Ein Poltern und Rumoren nachts im Dunkeln ist und bleibt besonders geeignet, um abergläubische Vorstellungen von gruseligem Geisterspuk zu wecken.

Verborgen unter diesen vagen Angstvorstellungen liegt aber eine noch viel tiefere unbewusste Angst. Dank ihrer poltertheoretischen Einsicht in die Ursprünge dieser Angst vor dem Schock des Verstehens gelingt es der wissenchaftlichen Klabautermannkunde, die Skopotaraxis (Unfähigkeit zu sehen), wie wir sie bei Begegnungen von Erwachsenen mit dem Klabautermann beobachten können, überzeugend als psychischen Abwehrmechanismus überforderter Polterperzipienten zu erklären.

Das Poltern ist ferner ganz objektiv eine durchaus gruselige Art von Sprache, auch und erst recht für einen Geist wie den Klabautermann, der selbst aus Holz (wieder-)geboren wurde. Als die Stimme des Holzes ist das Poltern für ihn eine Stimme aus dem Jenseits. Sie will ihn daran erinnern, dass in dem toten Holz, auf das er klopft oder mit dem er herumpoltert, vielleicht ein Urahn oder ein ungeborener Bruder von ihm steckt.

Auf dieser direkten Verwandtschaft der „Geister im Poltern“ mit dem Klabautermann als lebendigem Poltergeist beruht eben die Hoffnung der wissenschaftlichen Klabautermannkunde, mit Hilfe des Klabautermanns am ehesten zu einem Verständnis der Poltersprache gelangen zu können — und umgekehrt, mit Hilfe der Poltersprache zu einem besseren Verständnis des Klabautermanns, seiner Unsichtbarkeit und seiner Metamorphosen.

Die beiden Verfasser der Poltertheorie betonen aber auch mit Nachdruck, dass sich die Botschaft der Poltersprache nicht etwa nur an Poltergeister oder Holzmännlein, sondern ganz wesentlich auch an uns Menschen richtet. Laut und vernehmlich, manchmal geradezu mit dem Holzhammer, dringt sie in unsere Ohren, um in uns die Erinnerung an gemeinsame Wurzeln wachzurufen, die auch unsere Seelen mit denen der Bäume und Pflanzen verbinden. Dabei wartet sie mit einer Geduld, einem langen Atem, einer rhythmischen Penetranz, die ganz der unbeirrbaren, Jahr für Jahr sich erneuernden Lebensart einer Pflanze entsprungen zu sein scheinen, darauf, dass wir ihr Herz und Verstand öffnen.

Wir sind aufgerufen, in der Poltersprache ein erlernbares Kommunikationsmittel zu erkennen, das unentbehrlich ist, wenn wir je die Kluft zwischen Tier- und Pflanzenreich und ihren jeweils am höchsten entwickelten Vertretern, den Menschen und Bäumen, überwinden wollen. Einmal entziffert und erlernt, wird die Klarheit dieser neuen Sprache unser Denken endlich in die Lage versetzen, die unselige Unterscheidung zwischen Kultur und Natur, die ideologische Grundlage und zugleich die Achillesferse all unserer technischen Weltmanagement-Praktiken, in das Reich der Mythen und Legenden zu verbannen.

Es bleibt, bei allen Bemühungen der wissenschaftlichen Klabautermannkunde, bisher letztlich ein Rätsel, warum die skopotaraktische Polterperzeption, nur bei Erwachsenen wirkt, warum also der Anblick des Klabautermanns für Erwachsene unmöglich ist, während Kinder ihm klar in die Augen sehen können. Für den wissenschaftlichen Fortschritt ergibt sich daraus eine paradoxe Situation (man könnte hier auch von einer Aporie sprechen):

Wirksame Instrumente zur Sichtbarmachung des Klabautermanns sind durchaus bekannt und weit verbreitet — nämlich Kinderaugen. Doch im Gegensatz zu Galileis Teleskop können diese Instrumente auch von den aufgeschlossensten erwachsenen Forschern unmöglich verwendet werden.

Vielleicht aber sind es gerade solche scheinbaren Paradoxe, durch die die List der Vernunft wirkt: nicht nur, wie im Falle der polternden Werkzeuge, indem sie das Augenmerk (oder vielmehr Ohrenmerk) der Forschung auf das Poltern lenkt, sondern indem sie den Klabautermann gerade in seiner Unsichtbarkeit als vielleicht einzigen verfügbaren Schlüssel für die wissenschaftliche Erschließung der Poltersprache erkennbar — nein: erhörbar — werden lässt.

Der Klabautermann ist sich seiner wichtigen Dolmetscherrolle bewusst und hat die Herausforderung der Wissenschaft angenommen. Das Projekt der Entzifferung der Poltersprache wird die Menschheit in Zukunft nicht mehr loslassen. Unser von allen guten Geistern verlassener Geist wird sich im Zuge dieses Vorhabens auf lange ignorierte Wurzeln besinnen und mit der Zeit mehr und mehr Halt an ihnen finden“.

  • 📘Gerstäcker, Friedrich. Der Klabautermann; Der Klabautermann und die Schifferstochter. In: Seegeschichten, 3. Teil. 9.-11. Tsd. Köln, Schaffstein, 1921. ⎈ Zwei etwas altbackene und eher kitschige Erzählungen aus dem Seemannsleben, die gleichwohl sehr detailliert über Aussehen, Lebensgewohnheiten und Charakter des Klabautermanns informieren.
  • 📘Golther, Wolfgang. Handbuch der Germanischen Mythologie. Leipzig, Hirzel, 1895.
  • 📘Green, Miranda J. Dictionary of Celtic Myth and Legend. London, Thames and Hudson, 1992.
  • 📘Harmel, Siegfried. Sagen vom Klabautermann. Rostock, Hinstorff, 2008.
  • 📘Heims, Paul Gerhard. Seespuk, Aberglauben, Märchen und Schnurren. Leipzig, Hirt & Sohn, 1888.
  • 📘Heine, Heinrich. Reisebilder, Teil 2 (1822-1830). In: Gesammelte Werke, Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, Aufbau-Verlag, 1954.
  • 📘Kaut, Ellis. Dreißigsiebenvierzehn echte Pumuckl Dichter-Gedichte. München, Lentz, 1995.
  • 📘Maar, Paul. Klabautermann an Bord! Hamburg, Oetinger, 2007.
  • 📘Moers, Walter. Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär. Frankfurt/M., Eichborn, 1999. ⎈ Die im 2. Kapitel geschilderten, ziemlich unsympathischen zamonischen „Klabautergeister“ bilden einen interessanten Kontrapunkt zum Mainstream der Überlieferung, wo fast immer ein freundlich-neckisches Bild vom Klabautermann gezeichnet wird.
  • 📘Morgenstern, Christian. Galgenlieder. Berlin, Cassirer, 1905.
  • 📘Petzoldt, Leander. Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister. München, Beck, 1990.
  • 📘Puhle, Annekatrin. Das Lexikon der Geister. München, AT Verlag, 2004 ⎈ Von besonderem Interesse sind hier die Stichworte „Kinder“, „Klabautermann“, „Kobold“, „Klopfen“, „Poltern“ und „Poltergeister“ sowie „Geister-Theorien“.
  • 📘Sandemose, Aksel. Der Klabautermann. Roman. Aus dem Dänischen v. Nils Hoyer. Berlin, Safari, 1928.
  • 📘Schmidt, Fred Von den Bräuchen der Seeleute. Gedanken und Erinnerungen. Hamburg, Die Brigantine, 1962.
  • 📘Sterckx, Claude. Mythologie du monde celte. Paris, Marabou, 2009.
  • 📘von Ungern-Sternberg, Alexander. Die Seelen der Ertrunkenen. Schiffersagen. Berlin, Aufbau Taschenbuchverlag, 1991.
  • 📘Wossidlo, Richard. „Reise, Quartier, in Gottesnaam!“ Das Seemannsleben auf den alten Segelschiffen im Munde alter Fahrensleute. 4. Aufl., aus dem Nachlaß hrsg. v. Paul Beckmann. Rostock, Hinstorff, 1951. ⎈ Zweifellos eine der umfangreichsten und interessantesten Quellensammlungen, nicht nur zum Klabautermann. Wossidlo hat versucht, die mündliche Überlieferung mecklenburgischer Seefahrer ohne literarische Bearbeitung oder wissenschaftliche Kategorisierung zu dokumentieren.

English Summary by H. W. Longfellow (1807-1882)

19th century drawing of an American clipper ship

A full-rigged clipper ship. Drawing from the children’s magazine "Harper’s Young People" (February 3, 1880 edition). Source: Reusable Art [Public domain].

The poem below is the first of four parts of “The Musician’s Tale: The Ballad of Carmilhan”, which in turn forms part of the cycle Tales of a Wayside Inn, Part second, first published in 1863.

In just a few romantic yet concise verses, Henry Wadsworth Longfellow presents the main themes and motifs of the oral and written tradition surrounding Klabautermann.

I'm glad to have found such a classic English summary of my subject, so if your knowledge of German is rather basic, and by some strange coincidence you have still come to my website, please enjoy reading this short literary introduction to Klabautermannkunde (Klabautermann Studies).

The Ballad of Carmilhan

At Stralsund, by the Baltic Sea,
Within the sandy bar,
At sunset of a summer's day,
Ready for sea, at anchor lay
The good ship Valdemar.

The sunbeams danced upon the waves,
And played along her side;
And through the cabin windows streamed
In ripples of golden light, that seemed
The ripple of the tide.

There sat the captain with his friends,
Old skippers brown and hale,
Who smoked and grumbled o'er their grog,
And talked of iceberg and of fog,
Of calm and storm and gale.

And one was spinning a sailor's yarn
About Klaboterman,
The Kobold of the sea; a spright
Invisible to mortal sight,
Who o'er the rigging ran.

Sometimes he hammered in the hold,
Sometimes upon the mast,
Sometimes abeam, sometimes abaft,
Or at the bows he sang and laughed,
And made all tight and fast.

He helped the sailors at their work,
And toiled with jovial din;
He helped them hoist and reef the sails,
He helped them stow the casks and bales,
And heave the anchor in.

But woe unto the lazy louts,
The idlers of the crew;
Them to torment was his delight,
And worry them by day and night,
And pinch them black and blue.

And woe to him whose mortal eyes
Klaboterman behold.
It is a certain sign of death!
The cabin-boy here held his breath,
He felt his blood run cold.

In part four of the poem, "Klaboterman" reappears, this time on board the ghost ship Carmilhan. Longfellow seems to mix the story of Klabautermann with another famous sailors’ legend: The Flying Dutchman. If you would like to read more, you can follow the link above to the Maine Historical Society website on Longfellow.